Lillys Reise zu den Träumen

Lilly war gerade aufgewacht. Sie befand sich immer noch im Krankenhaus. Jeden Abend, wenn sie schlafen ging, wünschte sie sich, am nächsten Morgen wieder zu Hause aufzuwachen. Aber bis jetzt war dieser Herzenswunsch noch nicht in Erfüllung gegangen. Und so streifte ihr Blick, wie jeden Morgen, durchs Zimmer. Sie betrachtete die gelbe Wand auf der einen Seite und die lindgrüne mit den bunten Blumen auf der anderen. Dann streiften ihre Augen den großen Kasten und die weißen Regale, aus denen ihr bunte Stofftiere und Bücher entgegen lachten, die sie von zu Hause mitgebracht hatte.

So gesehen war es hier eigentlich richtig gemütlich geworden. Mit den Schwestern und Ärzten auf Station hatte sie ebenfalls Glück. Sie waren sehr nett. Am liebsten mochte sie Markus, den lustigen Pfleger, der sich oft als Clown verkleidete und Bauchreden konnte. Lilly musste dann immer richtig herzhaft lachen. Aber auch Sabine, die nette, rothaarige Ärztin mit den vielen Sommersprossen im Gesicht verstand es häufig, sie aufzumuntern und zum Lachen zu bringen.

Aber nichts desto trotz stand laufend die Frage im Raum, warum es ihr noch nicht besser ging. Sie wollte auch wie die anderen im Freien herum tollen, die Schule besuchen, einfach Spaß haben. Warum war gerade sie in diese blöde Situation geraten! Manchmal wurde sie bei dem Gedanken richtig wütend, manchmal auch sehr traurig.

Da vernahm Lilly, wie schon so oft, ein leises Gurren vom Fenster her. Die nette, weiße Taube saß auf der Fensterbank und schaute zu ihr herein. Lilly freute sich sehr! Sie hatte die Taube schon richtig lieb gewonnen. Oft besuchte sie das kranke Mädchen und gurrte dann so mitfühlend, dass es Lilly ganz warm ums Herz wurde. Sie hatte das Gefühl, die kleine Taube verstand, wie es ihr ging und was sie beschäftigte. Lilly hatte sie Sternchen getauft. Nun ja, der Name war vielleicht nicht gerade üblich für eine Taube, aber er traf genau, was Lilly fühlte, wenn sie die Taube sah. Die weiße Taube war für sie wie ein strahlend glitzernder Stern in der Nacht, der alle Einsamkeit wegbläst und einem das Gefühl gibt, einen Freund zu haben, der immer bei einem ist und man keine Angst zu haben braucht.

Sternchen war Lillys beste Freundin geworden, seit sie hier im Krankenhaus lag. Jeden Tag saß sie plötzlich ganz unvermutet am Fenstersims und betrachtete Lilly. Immer zu einer anderen Zeit. Aber jeden Tag traf es sich so, dass sie genau im richtigen Moment auftauchte. Immer dann, wenn Lilly mutlos wurde. Der Besuch der kleinen Taube heiterte sie auf, ließ sie die Welt wieder positiv betrachten.

Lilly sagte: „Du hast es gut, Sternchen, du bist frei. Es muss schön sein, durch die Lüfte zu fliegen mit dem Wind um die Ohren und mit der Nase Richtung Sonne.“ Wie sich das wohl anfühlen würde? Lilly vernahm ein lautes, aufgeregtes Gurren. Es war wie die Antwort: „Hey, das Fliegen ist echt super cool, kann ich nur sagen! Komm einfach mal mit!“

Lilly musste lachen: „Ja, ja, Sternchen, ich weiß ja, du würdest mich gerne mitnehmen, aber das geht nun wirklich nicht. Vielleicht ein anderes Mal…“ Sternchen gurrte noch einmal fröhlich und flog dann davon, nachdem sie sich noch zweimal umgedreht hatte. Lilly wusste, die kleine Taube würde wiederkommen und freute sich schon sehr darauf. Was sie wohl die restliche Zeit machte, wenn sie nicht hier bei ihr auf der Fensterbank saß?

Noch ganz verträumt und in Gedanken hatte Lilly gar nicht bemerkt, wie Markus ins Zimmer gekommen war. Offenbar hatte er noch ein wenig von ihrer Unterhaltung mit Sternchen gehört. Denn er sagte: „Ach so ist das, du würdest uns also gerne davon fliegen...“ Und er schmunzelte dabei. Dann sagte er zu Lilly: „Weißt du eigentlich, dass du das alles erleben kannst, was du dir wünschst?“

„Nein, wie denn?“

„Also gut. Schließ deine Augen ganz fest und halte sie geschlossen, bis ich dir meine Geschichte zu Ende erzählt habe.“

„Ok, dann mal los, ich bin schon gespannt!“ Lilly presste ihre Augenlider ganz fest zu, sie sah wirklich keinen Schimmer mehr.

„So, jetzt stell dir vor, es ist Sommer. Die Sonne scheint vom Himmel und viele ihrer Strahlen liebkosen dein Gesicht. Das fühlt sich richtig gut an, so warm und fein. Spürst du es?“

„Ja!“

„Ok, dann genieße es!

Mit jedem Sonnenstrahl, der dein Gesicht trifft, wird dein Herz leichter und leichter, du spürst das Glück, das sich langsam immer mehr in dir ausbreitet wie ein funkelndes Meer. Ein feiner Wind streicht über deine Haare und kitzelt dich lustig an der Nase. Du riechst den salzigen Duft des nahen Meeres, der in der Luft liegt und hörst die Wellen, wie sie langsam ans Ufer klatschen und sich dabei überschlagen. Der Himmel ist ganz blau, nur einige kleine, weiße Wölkchen haben sich hie und da dazwischen gesetzt. Ein kleiner Schwarm Möwen fliegt vorbei und ihre Laute klingen so verlockend, dass du ihnen nachrufst: „Nehmt mich mit! Ich will die Welt auch einmal von oben betrachten!“ Und grad so, als hätten sie dein Rufen gehört, machen sie plötzlich kehrt und fliegen zu dir. Gemeinsam tragen sie dich hinauf in luftige Höhen.

Es ist ein unglaubliches Gefühl! Du fühlst dich richtig schwerelos, leicht und dein Herz schlägt ganz aufgeregt. Du fühlst dich sicher und geborgen. Du weißt, dir kann nichts geschehen. Der Wind in deinen Haaren wird immer stärker. Zuerst hältst du die Augen noch geschlossen, um dieses Aufsteigen noch mehr genießen zu können, es bewusst zu erleben. Dann öffnest du sie ganz langsam und siehst das erste Mal alles von oben. Wie klein die Häuser sind. Die Menschen am Strand kannst du gar nicht mehr sehen. Dafür breitet sich das Meer unter dir wie ein riesengroßer, glitzernder Teppich aus.

„Wow, ist das schön!“, denkst du dir. Und überhaupt, du kommst aus dem Staunen gar nicht mehr heraus…Eine neue Welt eröffnet sich dir. Alles ist so anders, wirkt wie ein fernes Zauberland. Plötzlich bemerkst du, wie du langsam wieder an Höhe verlierst, deine Welt rückt wieder näher, immer näher. Und dann stehst du mit beiden Beinen wieder am Boden und die Möwen fliegend singend davon. Jetzt bist du wieder da, wo dein Platz ist, wo Gott dich hingestellt hat.

In dem großen Getriebe der Welt hat er dir genau dieses Fleckchen Erde zugedacht, weil er glaubte, dass dies das Beste für dich sei, du hier dein Glück finden würdest. Für die Möwen hat er die Lüfte bestimmt. Du kannst sicher verstehen, wie wichtig es ist, dass jeder am richtigen Platz sein Zuhause findet. Also vertraue darauf, dass du hier richtig bist. Was auch immer geschieht oder ist, du bist Teil eines großen Universums. Und trotzdem bist du so wichtig, dass einer da oben sich viele Gedanken über dich macht. Er liebt dich. Vergiss das nie!“

Lilly öffnete die Augen und strahlte. „Danke, Markus, das war sooo schön! Ich konnte das alles wirklich fühlen, wie du es beschrieben hast! Und weißt du, was ich glaube? Ich glaube, der liebe Gott hat Sternchen zu mir geschickt, damit sie mich aufmuntert und mir zeigt, wie wichtig ich bin. Ich brauche keine Angst zu haben. Das ist ein tolles Gefühl! Ich werde in Zukunft einfach öfter die Augen schließen und zu meinen Träumen reisen. Das ist toll!

„Siehst du“, sagte Markus, „genau das wollte ich dir vermitteln. Wenn es uns  im Leben manchmal nicht gut geht, so können wir doch träumen, uns an Orte begeben, die uns glücklich machen. So eine kleine Reise kann ungeheure Kräfte in uns wecken, uns über manche Hürde helfen. Träume lassen uns in den Himmel fliegen, eine andere Welt sehen. Wir kehren frisch gestärkt wieder heim. Also vergiss nie zu träumen! Und vergiss nie, dass du hier bist, weil das dein ganz besonderer Platz ist!

Lilly schlang ihre beiden Arme um den Hals von Markus und drückte ihn ganz fest: „Danke, ich hab dich ganz lieb! Ich werde wieder gesund. Das spüre ich jetzt ganz stark.“

 

Anmerkung: Diese Geschichte entstand aus der Idee, kranken Kindern im Krankenhaus Mut zu machen, ihnen Hoffnung zu schenken und ein kleines Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Ich hoffe, dass es mir gelingt, möglichst viele kleine Herzen mit "Lillys Reise zu den Träumen" zu erreichen und zu berühren.

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