Fabienne
Manuel war nervös. Er saß in dem kleinen Straßencafè direkt am Fluss und wartete. Er wartete auf sie. Es war Dienstag, der 20. August. Kleine Wölkchen trieben über den blauen Himmel, eine leichte Brise machte diesen heißen Nachmittag erträglich. Manuel schaute aufs Wasser, das sehr unruhig mit vielen kleinen Wellen dahin floss. Ein Entenpärchen hatte jede Mühe, halbwegs den Kurs zu halten. Manuel dachte nach. Würde sie heute kommen? So wie am letzten Dienstag? Mitten in seine Gedanken hinein fragte der Kellner: „Was darf es sein?“ Manuel überlegte kurz und sagte dann: „Ein Himbeersoda und ein Achtel Chardonnay.“ Der Kellner stutzte ob dieser ungewöhnlichen Bestellung und ging mit einem leichten Kopfschütteln weg. Manuel entging das nicht und er musste lächeln. Das entspannte ihn. Warum war er eigentlich so nervös? War es die Tatsache, dass er einen idealen Moment verpasst hatte, um die Frau anzusprechen, deren Anblick ihm im wahrsten Sinn des Wortes den Atem raubte? Hatte er seine einzige Chance verspielt?
Letzten Dienstag war er zufällig hier in diesem Cafe gesessen. Plötzlich war sie gekommen. Nein, eigentlich war sie nicht gekommen, sie war eher erschienen…groß und schlank, mit langem blonden Haar, das in sanften Wellen über die Schulter fiel…Sie hatte ein langes, blau-weiß gemustertes, schulterfreies Sommerkleid aus fließendem Stoff und weiße, flache Sandalen getragen. Um ihren Hals eine zarte Perlenkette, in ihrer Hand eine große, pinkfarbene Henkeltasche. Die Sprache der Augen, das verspielte Lächeln und die besondere Art zu gehen, hatten eine Spur von großer Lebendigkeit, Anmut und Leichtigkeit hinterlassen. Sie war zum Nebentisch spaziert, hatte fröhlich ihre Freundin begrüßt und sich dann mit dieser bei einem Cappuccino unterhalten. Manuel war sonst nicht der Mensch, der den Gesprächen anderer lauschte. Es interessierte ihn einfach nicht. Nur an diesem Tag war alles anders und er versuchte, viele Worte der beiden zu erhaschen. Jetzt, am Dienstag, den 20. August, saß er am selben Platz und hoffte und wartete ungeduldig auf ihr Erscheinen. Er hatte gehört, dass sich die zwei Freundinnen oft an einem Dienstag hier im Cafe trafen. Sieben Tage und Nächte hatte er immer wieder an sie gedacht. Er hatte sich extra den Nachmittag frei genommen. Das war es ihm wert. Sie musste einfach kommen! Es gab keinen Plan B für den Fall, dass Plan A nicht eintraf. Es konnte keinen Plan B geben. Er wusste zu wenig über sie. Und morgen ging sein Flug. Er hatte eine riesengroße Chance einfach ungenutzt verstreichen lassen. Jetzt musste er handeln. Er wollte sie. Unbedingt.
Der Kellner kam und stellte das Himbeersoda und das Glas Chardonnay nebeneinander auf den Tisch, die Rechnung legte er unter den Aschenbecher. Er bemerkte kurz zu Manuel: „Das ist ein besonderer österreichischer Wein, bei uns neu im Sortiment. Lassen Sie sich von diesem samtig weichen, runden Geschmack nach Karamell, ein bisschen Banane und einem Hauch Ananas in eine exotische Genusswelt entführen! Er ist ein Traum von einem Wein!“ Dann lächelte er vielversprechend und fügte noch hinzu: „Kein Wunder, schließlich ist es der spezielle Geburtstagswein für die äußerst hübsche Tochter des Weingutbesitzers.“ Manuel sagte: „Aha, danke, da bin ich aber gespannt!“ Dann nahm er das Himbeersoda und trank es mit einem Zug leer. Er spürte das starke Prickeln in seinem Mund, das sich mit einer verführerischen Süße mischte. Manuel lächelte wieder und dachte an die schöne Fremde mit den strahlenden Augen. Ob sie auch Himbeersoda mochte? Manuel griff zum Weinglas. Jetzt wollte er selbst testen, was es mit diesem besonderen Tropfen auf sich hatte. Er nahm einen guten Schluck und ließ das Bouquet des Weißweins langsam auf der Zunge zergehen. Manuel zählte sich selbst nicht zu den Weinspezialisten, dennoch erkannte er wie in dem Fall, dass es sich zweifelsohne um eine äußerst gelungene Weinkomposition handelte. Eine für ihn geheimnisvolle Süße mischte sich mit einer kraftvollen Harmonie und einer in sich ruhenden Leichtigkeit. Dieser Chardonnay war wie eine außergewöhnliche Frau, die sinnliche Eleganz, mutige Stärke und sensible Tiefgründigkeit in sich vereinte. Manuel lächelte. Was wohl der Weinhersteller zu seiner Beschreibung sagen würde? Das Rad der Zeit hatte sich inzwischen merklich weiter gedreht. Eine Stunde war vergangen. Keine Spur von der geheimnisvollen Fremden. Manuel seufzte. Pech gehabt! Morgen um diese Zeit würde er schon im Flieger nach Los Angeles sitzen. Ein halbes Jahr Auslandsaufenthalt stand ihm bevor, verbunden mit jeder Menge Arbeit.
Im nächsten Moment sah er sie. Sie ging flotten Schrittes auf den Kellner zu, unterhielt sich mit ihm. Manuel war wie gelähmt. Er glaubte, eine Fata Morgana zu sehen. Sein Herz klopfte wild. Im nächsten Augenblick drehte sie sich wieder um, lief zu dem Bus, der gerade vor dem Cafe hielt und stieg ein. Sie setzte sich in dritter Reihe auf den freien Platz am Fenster und blickte nach draußen. Sie blickte direkt in Manuels Gesicht. Für eine halbe Unendlichkeit verschmolzen ihre Blicke und formten lautlose Worte und Fragen. Sie begann zu lächeln. Mit diesem Lächeln umarmte sie Manuels Blick, eroberte sein ganzes Herz. Im nächsten Moment fuhr der Bus los…Manuel starrte dem Bus nach. Er konnte es nicht glauben. Er konnte nicht glauben, was soeben passiert war. Was wollte das Schicksal ihm sagen? Der Kellner schien die einzige Brücke zwischen ihnen zu sein. Schnell entschlossen winkte er ihn herbei. Nur, was sollte er sagen? Wie sollte er es anstellen, von ihm etwas über diese Frau herauszufinden? Als der Kellner vor ihm stand, bemerkte er: „Dieser Chardonnay ist wirklich äußerst speziell und besonders, fast ein wenig wie diese blonde, junge Frau, mit der sie gerade gesprochen haben.“ Der Kellner schaute zuerst ein wenig verdutzt, dann lachte er herzlich und meinte: „Ja, dieser Wein würde auch gut zu Fabienne passen. Lustig. Sie ist die Schwester derjenigen, für die dieser Wein gedacht ist.“ Dann drehte er sich um, weil jemand nach ihm gerufen hatte und ging weg. Manuel schrie ihm noch nach: „Bitte eine Flasche Chardonnay!“ Er war wild entschlossen, schnell alles über die blonde Schönheit herauszufinden, um sie kontaktieren zu können. Eine halbe Stunde und eine halbe Flasche köstlichen österreichischen Chardonnays später hatte er ihre Handynummer. Dank Flaschenetikett, Iphone und einer freundlichen Sekretärin des Weingutes, der er ein fingiertes Firmenevent vorgespielt hatte. Dann schrieb er die wahrscheinlich längste, verrückteste und mutigste SMS seines Lebens. Um 16.31 Uhr drückte er auf Senden.
Damit begann die grausame Wartephase. Würde sie antworten? Würde sie sich mit ihm treffen wollen? Würde dieser österreichische Topwein sein absoluter Glücksbringer sein? Es war doch sicher kein Zufall, dass er ausgerechnet heute diesen Wein bestellt hatte, der in Verbindung mit ihr stand, oder? Manuel liebte österreichische Weine und verkostete je nach Lust und Laune gerne die verschiedensten Sorten. Heute war ihm nach einem Chardonnay gewesen. Manuel zahlte und nahm die Flasche mit nach Hause.
Er musste noch packen, morgen begann ein neuer Abschnitt seines Lebens.
Um 23.38 Uhr piepte sein Handy. Eine Sms. Manuel schlief tief und fest.