Ein Stück Heimat im Herzen

Marie liebte diesen Platz, das herrliche Panorama, das ihr das Gefühl von Offenheit, Wärme und Freiheit vermittelte. Jedes Mal, wenn sie hier auf diesem Hügel stand und den Blick über die sanfte Landschaft gleiten ließ, spürte sie, wie viel Kraft Mutter Erde diesem bezaubernden Stück Heimat geschenkt hatte, wie pure Naturschönheit zu einer mannigfaltigen Inspiration der Sinne werden konnte. Und so stand sie einen langen, ruhigen Moment einfach da, sog all die verschiedensten Eindrücke ihrer Umgebung in sich auf. Sie betrachtete die hügelige Landschaft mit den anmutigen Weinbergen, den blauen Horizont, der heute besonders intensiv in der Farbe schien, sie lächelte ein wenig über die drei bauschigen, weißen Wolken, die frech und irgendwie stolz das satte Blau durchbrachen. Sie tastete liebevoll mit ihren Augen die entfernten Häuser und die Kirche des kleinen Dorfes ab, die lange Zeit fixer Teil ihres Lebens gewesen waren. Hier in einem der schönsten Weinanbaugebiete Österreichs hatte sie ihre Kindheit verbracht, hier hatte sie angefangen, Steinchen für Steinchen wichtige Elemente ihres Lebensmosaiks aneinander zu fügen, die nun mit fast vierzig Jahren schon ein recht buntes, interessantes Bild ergaben.

Marie erinnerte sich gerne an verspielte Kindheitstage voll Neugier, Leichtigkeit und Abenteuerlust. Zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden hatte sie alles genossen, was das Landleben gerade für ein Kind an Wunderbarem zu bieten hat- vom Bäume klettern und Baumhaus bauen, Verstecken spielen in den nahe gelegenen Weinbergen, von Schlamm- oder Schneeballschlachten bis hin zu Versuchen, auf der Kuh des Nachbarn zu reiten…Jeden Tag, auch später noch nach der Schule, hatten sie das erlebt, was man die große Freiheit und Unbekümmertheit nennen könnte. Erst sehr viel später war ihr bewusst geworden, welch Glück dies alles bedeutete und dass es nicht selbstverständlich war.

Das Geräusch eines Hubschraubers holte Marie etwas unsanft aus ihrer Gedankenwelt wieder in die Realität zurück. Sie seufzte kurz und suchte dann ihre direkte Umgebung nach einem geeigneten Platz für ihr kleines Picknick ab. Nur etwa fünfzehn Meter entfernt entdeckte sie einen Baum, der ihr genau richtig erschien, um in dessen Schatten den Übergang vom Nachmittag in den Abend zu erleben, ein wenig in der Vergangenheit zu schwelgen und auch über Neues nachzudenken. Von Zeit zu Zeit suchte sie die einsame Stille, um in der Ruhe der Natur nicht nur neue Energie zu tanken, sondern auch für eine genussvolle Weile der Stimme ihres Herzens zu lauschen, den leisen Klängen einer Melodie, die in ihrem Leben einen besonderen Stellenwert erlangt hatte. Denn nichts war gefährlicher und irreführender und letztlich dann verletzender, als sich allzu weit von sich selbst zu entfernen, nicht mehr die zu sein, die man eigentlich war. Marie hatte gelernt, diese Stille zu lieben. Und um dieser Stille noch eine ganz besondere Note zu verleihen, hatte sie sich eine Flasche köstlichen Weißweins aus der Region mitgenommen, natürlich sorgfältig verpackt in einer geeigneten Kühlbox, um die ideale Trinktemperatur zu gewährleisten. Es war eine spezielle Angewohnheit von Marie, sich auf ihre beruflich bedingten, manchmal längeren Auslandsaufenthalte stets auch eine Flasche ihres österreichischen Lieblingsweines mitzunehmen. Mit jedem Schluck dieses kraftvollen Weißweins spürte sie dann ein Stück Heimat im Herzen, zauberten diese Pfirsich-, Marillennuancen einen brillanten Hochgenuss der Extraklasse und ließen sie eine geborgen wärmende Verbindung zu einem Fleck Erde spüren, der ihr noch heute die Welt bedeutete.

Marie setzte sich auf den roten Strickpullover, den sie sich zuvor locker um die Hüften gebunden hatte, sie lehnte ihren Kopf an den Baumstamm und öffnete dann die Flasche Wein. Sie füllte das mitgebrachte Glas und betrachtete dessen Inhalt. Ein kleiner Sonnenstrahl hatte sich im Glas verfangen und zauberte nun ein helles Lichtermeer aus strahlendem Funkeln. War das schön! Marie konnte sich daran gar nicht satt sehen! Sie trank  den ersten Schluck ganz langsam, da sie jede besondere Note dieses Weines bewusst in sich aufnehmen und genießen wollte. Sie fühlte das kühlend herzhafte Prickeln des Weines und war äußerst zufrieden mit sich und der Idee dieses Picknickens. Ihr Blick schweifte über die angrenzenden Weinberge, an denen die Trauben zu reifen begannen. Sie liebte die geheimnisvolle Ausstrahlung eines Weinberges- seine Stärke, seine Anmut und seinen Stolz. So wie sie als Kind schon oft seine Nähe beim Verstecken spielen und Schreiben bzw. Lesen geheimer Botschaften gesucht hatte, so gab er ihr auch heute noch das Gefühl, beschützt und sicher zu sein.

In all ihre Gedanken hinein tauchte plötzlich ein Gesicht auf…Peter!…Es war schon einige Zeit her, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, hier ganz in der Nähe an einem weiteren besonderen Platz…Seine Mutter hatte diesen köstlichen Heidelbeerkuchen mit Schokoladestückchen gebacken und ihm diesen nebst einer gekühlten Flasche Wein mit auf den Weg gegeben…Er hatte sie spontan angerufen und sich schon kurze Zeit später mit ihr auf seinem Lieblingsplatz verabredet. Sie hatte so lange mit dem Styling getrödelt, dass sie den halben Weg laufen hatte müssen und schließlich mit hochrotem Kopf angekommen war…Darüber hatte er sich köstlich amüsiert und so war dieser Abend schon von Anfang an mit einer frischen Brise Heiterkeit und Leichtigkeit gewürzt gewesen.  Marie lächelte und blickte gedankenverloren über den Horizont…Wohin sie auch blickte, sah sie immer wieder dieses eine Gesicht mit den tiefgründigen Augen, den zwei lustigen Grübchen an den Wangen und dem wunderschönsten, breitesten Lächeln der Welt…Dieses letzte Wiedersehen hatte einiges zwischen ihnen verändert, zumindest schien ihr das so. Peter war immer ein besonderer Freund gewesen. Er war viel unterwegs. Sie auch. Deshalb sahen sie sich nur selten. Aber die Treffen waren dann immer etwas Besonderes. Nur das letzte Mal war plötzlich etwas Neues, Unbekanntes aber sehr Schönes in der Luft gelegen…von einem Moment auf den anderen….warum auch immer…Peter, ja Peter….hmmm…Was er wohl gerade machte? Wann würde sie ihn wiedersehen?...

Marie trank wieder einen Schluck von diesem wunderbaren Tropfen und befand, dass er heute besonders gut schmeckte. Sie wollte soeben nach den ebenfalls eingepackten Thunfischtramezzini greifen, als sie das Piepen ihres Handys hörte- eine Sms. Sie kramte in ihrer Tasche, zog das Handy hervor und war sprachlos…eine Sms von Peter…unglaublich!...Er schickte ihr Grüße aus Lissabon…Und zwischen den wenigen Worten stand so viel mehr…Wieder einmal hatte er ihre Nähe in der Ferne gespürt…Marie lächelte noch immer und in ihrem Körper gingen viele Sonnen auf und strahlten miteinander um die Wette…

Marie hob das Glas und dachte: „Dieser Wein und Peter haben einiges gemeinsam. Beide sind für mich ein besonderes Stück Heimat im Herzen, österreichischer Genuss „par excellence“…“

 

 

zurück