Die Löwenmaus

Paul, der kleine Löwe, machte sich eines Tages auf den Weg, um die Welt zu erkunden. Eigentlich hätte er sich nicht so weit von seiner Familie entfernen dürfen, aber neugierig, wie er war, hatte er alle Mahnungen seiner Eltern in den Wind geblasen und war allein losgezogen. Er staunte nicht schlecht darüber, was er alles an Neuigkeiten fern seiner Familie entdeckte. Alles, was er sonst nur von seinen Bilderbüchern her kannte. Unterschiedlichste Tiere, Pflanzen und noch vieles mehr. Wow, das war wirklich ein Abenteuer! Er konnte gar nicht verstehen, warum seine Eltern ihm das nicht schon viel früher gezeigt hatten. Und dann stand vor ihm plötzlich ein kleines Tier und schaute ihn ganz erschrocken an. Paul lachte. Das musste jetzt wohl eine Maus sein. Dass die so klein waren, hatte er sich gar nicht gedacht. Paul lachte richtig aus vollem Halse und die kleine Maus stand wie versteinert da und zitterte mächtig. Da bekam er richtig Mitleid mit ihr und sagte: „Hey, ich bin Paul, und wer bist du? Hast du Lust, mit mir zu spielen?“ Die kleine Maus piepte mit zitternder Stimme: „ Ich bin Maja, die Wühlmaus. Ich weiß nicht so recht, ob wir zwei gut miteinander spielen können. Ich bin doch so klein und du so groß.“

„Ach, komm schon“, meinte Paul, „sei nicht fad! Wir spielen fangen. Los geht’s!“

Maja tigerte los, so schnell sie nur mit ihren winzigen Füßen konnte. Aber natürlich hatte Paul sie sofort eingeholt und als er sie mit seiner Tatze anstupfen wollte, war das für die kleine Maus wie ein kräftiger Schlag und sie kippte bewusstlos zur Seite. Oje, damit hatte Paul nicht gerechnet. Er fühlte sich richtig schuldig. Die arme Maus! Das hatte er nicht gewollt. Er musste schnell mit ihr zu Mama, die würde wissen, was zu tun war. Also nahm er Maja, so vorsichtig es nur ging, in sein Maul und rannte wie der Wind nach Hause. Seine Mama staunte nicht schlecht, als Paul mit der Maus angerannt kam. Aber als sie seine Geschichte hörte, wollte sie ihm natürlich helfen, seinen Fehler wieder gut zu machen. Und so pflegte sie die kleine Maus, bis sie wieder gesund war.

Dann wollten sie Maja wieder dorthin zurückbringen, wo sie hergekommen war. Als sie das versuchten, mussten Paul und seine Mama feststellen, dass dieses Gebiet überschwemmt worden war und sie also keine Chance hatten, Majas Familie wiederzufinden. Die hatten sich schon längst in Sicherheit gebracht.

Also nahmen sie Maja wieder mit zu sich. Und so wuchs Maja, die kleine Wühlmaus mit Paul, dem Löwenkind, auf. Paul achtete besonders auf sie und es entwickelte sich eine wunderschöne Freundschaft zwischen den beiden. Paul bewunderte Maja, weil sie so gut im Erdboden Gänge zum Verstecken bauen konnte, worin sie blitzschnell verschwand und Maja war ganz hin- und hergerissen von Pauls Kraft und seinem lauten, Angst einflößenden Gebrüll. Und weil sie sich so gut miteinander verstanden, lernten sie sich gegenseitig, was sie gut konnten. Mit der Zeit konnte Paul auch Gänge ins Erdreich graben, wo er sich verstecken konnte und Maja lernte, ihre Stimme zu trainieren und auf ihre Art und Weise zu brüllen. Das klang anfangs sehr lustig, sie wurde aber im Laufe der Zeit immer besser und brüllte richtig heftig.

Die Löwenmama und der Löwenpapa waren ganz stolz auf Paul und die Art, wie er sich seit der ersten Begegnung mit der Maus verändert hatte. Er war längst nicht mehr der abenteuerlustige, nicht denkende kleine Junge, nein, mittlerweile war er ein verantwortungsbewusster junger Mann geworden, der vieles anders betrachtete. Maja tat ihm gut. Die Freundschaft zu ihr hatte das Beste in ihm hervor geholt, obwohl sie oder gerade weil sie so verschieden waren. Sie mussten, jeder für sich, aufeinander Rücksicht nehmen und konnten sich ein Leben ohne den anderen nicht mehr vorstellen.

Eines Tages gingen alle Löwen auf Jagd. Sie meinten zu Maja, sie solle lieber zu Hause bleiben, es wäre doch zu gefährlich für sie mitzukommen. Und so verbrachte sie den Tag in aller Ruhe und Muse zu Hause. Plötzlich hörte sie Geräusche. Sie schaute um sich. Nichts war zu sehen. Aber dann sprang aus dem Hinterhalt ein großes Tier auf sie zu. Es war ein Tiger. „Ha“, meinte dieser, „jetzt hab ich dich, du kleine Maus. Du wirst heute meine Vorspeise.“ Und dann fletschte er die Zähne und knurrte die Maus an. „Oje“, dachte Maja, „was mache ich nur. Im Rennen bin ich zu langsam und Paul ist auch nicht da. Er würde sie beschützen.“ Aber dann fiel ihr ein, dass Paul einmal zu ihr gesagt hatte, dass sie die beste Löwenmaus der Weltgeschichte sein, weil sie so gut brüllen konnte. Und so brüllte sie den Tiger an. Damit hatte dieser nicht gerechnet. Er war so verdattert, dass er sie die längste Weile nur anstarrte und gar nicht bemerkte, dass diese sich in der Zwischenzeit ein kleines Loch gebuddelt hatte und darin verschwand. Jetzt war Maja in Sicherheit. Der Tiger trottete von dannen.

Als Paul abends von der Geschichte erfuhr, war er so stolz auf seine Freundin Maja. Sie war zwar nicht groß und hatte nicht solche Kräfte wie er, aber sie war ein gescheites Mädchen und sich ihrer ganz geheimen Kräfte bewusst.

Jeder von uns hat eben eigene Kräfte, jeder andere. Wir dürfen nur nicht vergessen, sie auch einzusetzen. Kraft zu haben, heißt nicht immer, stark zu sein in den Armen oder Beinen. Kraft zu haben heißt auch, stark zu sein in sich, an sich zu glauben, mutig zu sein. Denn viele haben Kraft, aber sie sind feige. Und letztlich ist der Mutige der Stärkere.

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