Adventfenster 24
Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Ilona war ganz aufgeregt. Heute sollte das Christkind kommen…endlich! Die Adventszeit war ihr gar so lang vorgekommen, obwohl sie doch so viel mit ihren Eltern unternommen hatte. Sie erinnerte sich natürlich an den Nikolaus, der dieses Jahr sogar höchstpersönlich zu ihr nach Hause gekommen war – na, ja, sie war ja jetzt mit ihren fünf Jahren schon ein großes Mädchen, oder? Gott sei Dank war kein Krampus dabei gewesen, vor dem fürchtete sie sich nämlich immer sehr. Aber wie hatte der Nikolaus gesagt, da sie im großen und ganzen doch immer ein recht braves Mädchen gewesen war, hätte er seinen unliebsamen Gefährten vor der Tür gelassen….Huuuh, da hatte sie aber Glück gehabt!…..Ilona bekam vom weißbärtigen Mann einen roten Stoffsack mit verschiedenen Nüssen, Mandarinen, Lebkuchen. Das duftete so herrlich! Als sie den Sack dann noch genauer inspizierte, entdeckte sie am Boden die kleine, rosarote, herzförmige Lillifeedose, die sie sich schon so lange gewünscht hatte. Das war vielleicht eine Überraschung! Ja, der Nikolausbesuch war ein besonderes Ereignis der letzten Wochen gewesen.
Dann gab es aber auch noch andere wichtige Dinge, wie zum Beispiel das traditionelle Kekse backen mit Oma, auf das sie sich immer so freute. Oma knetete eine große Kugel aus verschiedensten Zutaten, sie bekam dann ein Stück davon, durfte mit ihrem eigenen kleinen Nudelholz eine fingerdicke Teigschicht machen und dann je nach Belieben die verschiedensten Formen ausstechen. Dann kam das ganze in den Backofen und nach ein paar herrlich duftenden Minuten holten sie die Leckereien wieder heraus und verzierten sie mit Schokoladeglasur und bunten Streuseln. Ilona war dann von Kopf bis Fuß mit allerhand Schmierereien bedeckt, aber ihre Oma lachte dann immer, sie hatte wirklich viel Geduld, und nach dem Beenden der Backstunde wurde Ilona einfach in die Badewanne gesteckt und wieder frisch gemacht.
Opa wiederum machte ganz andere Dinge mit ihr. So etwa waren sie an einem Samstag gemeinsam mit einer Rodel aufgebrochen und den kleinen Hügel in der Nähe des Waldes hinaufgestapft. An diesem Nachmittag waren sie seltsamerweise sogar ganz alleine dort gewesen. Der gesamte Hügel gehörte ihnen und so hatten sie freie Bahn beim Hinunterfahren. Wenn sie mit Opa gemeinsam auf der Rodel saß, fuhren sie ganz schnell, der Wind blies Ilona so richtig ins Gesicht und sie schrie voller Freude. Abschließend durfte sie dann auch ein paar Mal alleine den Hügel hinunterfahren. Allerdings lief Opa nebenher und passte auf, dass sie nicht zu schnell wurde und sich weh tat. An jenem Nachmittag war sie danach so müde gewesen, dass Opa sie auf der Rodel nach Hause zog und sie sofort einschlief. Sie träumte dann natürlich von der tollen Schlittenfahrt.
Papa nahm sich in der Adventszeit immer besonders viel Zeit für sie. Das fand sie toll! Sie saßen dann abends neben dem warmen Kachelofen, kuschelten, zündeten die Kerzen am Adventkranz an und sie durfte sich immer eine Geschichte aus dem dicken Buch der Weihnachtsmärchen aussuchen, die er ihr dann vorlas. Sie versuchte oft, sich eine möglichst lange Geschichte auszusuchen, weil sie die Zeit vor dem Schlafengehen hinausziehen wollte. Manchmal, wenn sie ganz viel Glück hatte und ihren Papa ganz lieb bettelte, las er ihr sogar noch ein zweites Märchen vor. Nach den Geschichten erzählte sie Papa, was sie untertags so alles erlebt hatte und auch er berichtete ihr dies und das, obwohl sie manche Erwachsenengeschichten nicht so recht kapierte, die Welt der Erwachsenen war manchmal schon ziemlich kompliziert und schwer zu verstehen. Ja, so verging die Zeit am Abend immer schnell und abschließend machte sie des Öfteren noch ein Wettrennen mit Papa ins Schlafzimmer. Natürlich gewann meistens sie, ist doch klar, oder?
Mama hatte sich heuer im Advent etwas ganz Spezielles ausgedacht. Jede Woche einmal machten sie einen langen Bastelnachmittag. Ilona tat das sehr gerne. Mama machte Vorschläge und dann setzten sie diese gemeinsam in die Tat um. Mama übernahm vorwiegend die Schneide- und Klebearbeiten, darin war Ilona noch nicht so geübt. Sie dagegen hatte sich aufs Anmalen und Aussuchen der verschiedensten Materialien spezialisiert. Gemeinsam waren sie ein wirklich gutes Team. So hatten sie schon viele, tolle Dinge gemeinsam hergestellt, die sie anschließend auf´s Nachtkästchen von Ilona stellten, damit sie diese noch den ganzen Abend bewundern konnte. Am nächsten Tag machten Ilona und ihre Mama dann je nach Lust und Laune entweder vormittags oder nachmittags einen Spaziergang durch die Stadt. Sie gingen eine Weile einfach so durch die Straßen, beobachteten die Menschen, die oft sehr hektisch durch die Gassen strömten. Ilona durfte sich dann jemanden aussuchen, der ihrer Meinung nach ein wenig traurig aussah und sie schenkten dann diesem Menschen die gebastelte Kostbarkeit.
Die Reaktionen der Menschen waren sehr unterschiedlich. Meist schienen sie sehr erstaunt, konnten es kaum glauben, freuten sich aber durchwegs sehr. Es war schön zu sehen, wie sich auf den traurigen Gesichtern plötzlich ein Lächeln zeigte, ein wenig unerwarteter Freude in ihren Augen spiegelte. Ilona freute sich dann immer auch besonders, weil sie spürte, wie man Glück verdoppeln konnte, wenn man es mit einem Menschen teilte. Sie hatte am Vortag die Freude am Basteln und konnte das Geschenk noch für ein paar Stunden ihr eigen nennen, am nächsten Tag schenkte sie ein Stück dieser Freude weiter. Manchmal, das musste sie schon zugeben, war es gar nicht so leicht, sich von dem ein oder anderen Bastelkunstwerk zu trennen, aber wenn sie dann die Sonne im Gesicht der traurigen Menschen aufgehen sah, wusste sie, dass die Entscheidung richtig gewesen war, es zu verschenken. Sie konnte sich selbst ja noch einmal so etwas basteln.
Ihre Mama hatte einmal zu ihr gesagt: „Weißt du, Ilona, wenn du jemandem eine richtige Freude machen willst, musst du mit dem Herzen schenken, musst du eine Brücke von deinem Herzen zum anderen bauen. Das ist der beste und schönste Weg, um Menschen wirklich glücklich zu machen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Geschenk teuer oder billig ist, es muss einfach spürbar sein, dass du etwas mit Liebe machst. Das ist im Prinzip das Teuerste und Wertvollste, das du schenken kannst- Liebe, die von Herzen kommt.“ Ilona war zwar erst fünf, aber nach dem ein oder anderen Erlebnis begann sie zu verstehen, was Mama meinte. Und Liebe war nicht etwas, das man nur für Mama, Papa, Oma, Opa oder die beste Freundin empfinden konnte. Liebe konnte man auch für viele andere Menschen empfinden, wenn man nur sein Herz weit auf machte und den anderen so nahm, wie er war, jetzt und mit den Gefühlen, die ihn in diesem Moment begleiteten.
Nur einmal hatte ein Mann ganz eigenartig auf ihr Geschenk reagiert. Er hatte sie böse angeschaut und gemeint, sie solle ihn mit diesem Blödsinn in Ruhe lassen. Dann hatte er die Straßenseite gewechselt und war ohne weitere Worte davon gegangen. Ilona war ganz traurig und bestürzt gewesen. Wie konnte der Mann nur so reagieren, wo sie ihm doch nur eine Freude machen hatte wollen. Sie war den Tränen nahe gewesen. Ihre Mama hatte sie am Arm genommen und war mit ihr in die Bäckerei um die Ecke mit den kleinen gemütlichen Holztischchen gegangen. Dort hatte sie eine heiße Schokolade mit einem dicken Klecks Sahne bekommen und Mama hatte versucht, eine Erklärung für das soeben Erlebte zu finden. „Weißt du“, hatte sie gemeint, „manche Menschen haben in ihrem Leben schlimme Dinge erlebt, etwas, das sie sehr verletzt hat. Und anstelle sich zu bemühen, diese große Wunde mit viel Zeit, Geduld und Liebe zu heilen, haben diese Menschen eine dicke Mauer um ihr Herz gebaut, einen richtigen Schutzwall, damit ihnen so etwas nicht mehr passieren kann. Sie haben ihr weiches, verwundetes Herz in eine harte Schale gepackt, um etwas zu verhindern, was einfach nicht möglich ist.
Das Leben bringt immer Schönes und Trauriges. Aber wir sollten versuchen, uns in traurigen Situationen an das Schöne zu erinnern, das uns auch widerfahren ist, anstelle uns in der Traurigkeit zu verkriechen, das Herz hart werden und Vertrauen gehen zu lassen. Es ist keine Schande, traurig und verletzt zu sein, den anderen in der Umgebung zu zeigen, dass wir leiden. Nur so können wir anderen auch die Chance geben, uns zu helfen, die Wunden zu heilen. Wenn wir uns aus Kummer von allem abwenden und einfach verbittert werden, verbannen wir gleichzeitig die Liebe aus unserem Leben und unser Herz kann nicht wieder so fröhlich werden, wie es sein könnte. So, wie nach jedem Gewitter auch die Sonne scheint, kommt im Leben auch nach einer schlimmen wieder eine gute Zeit, die uns vieles vergessen, uns neu hoffen lässt.
Der Mann ist eigentlich zu bedauern, weil er verlernt hat, sein Herz sprechen zu lassen und so nur mehr Negatives in allem sieht. Aber wer weiß, vielleicht denkt er ja abends zu Hause noch einmal kurz an dich und dein Geschenk und die starke Mauer seines Herzens bekommt zumindest einen kleinen Riss, der nach und nach größer wird und irgendwann so vielleicht eine Chance besteht, dass die Mauer zusammenbricht. Das wollen wir hoffen, oder?“
Dann schaute sie Ilona mit einem freundlichen Lächeln an und sagte: „So, und jetzt suchen wir einfach jemand anderen, der sich über dein Kunstwerk freut…“
Gesagt, getan…Nur wenige Minuten später hatte sich eine alte Frau gefunden, der vor lauter Freude sogar Tränen in die Augen stiegen. Ilona war danach glücklich, aber auch ein bisschen nachdenklich mit ihrer Mama wieder nach Hause gegangen.
Ja, und nun war er da, der Heilige Abend… Dieser Tag würde sich allerdings noch ziehen wie ein großer Kaugummi, das wusste Ilona schon jetzt. Was sie wohl vom Christkind bekommen würde? Sie war sich ja sicher, dass das Christkind ihren langen Brief gelesen hatte, schließlich hatte es als Zeichen anstelle des Briefes einen Tannenzweig, einen Christbaumschokoladenbehang und ein Engelshaar zwischen den Fensterscheiben zurück gelassen.
Ilona schlich auf leisen Sohlen Richtung Wohnzimmer und versuchte, durch das Schlüsselloch der versperrten Tür vielleicht etwas erkennen zu können, eine Vorahnung der großen, spannenden Überraschung zu bekommen. In dem Moment hörte sie das fröhliche Lachen ihrer Mutter im Hintergrund die nur meinte: „Na, mein Schatz, du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten, bis das Christkind endlich da ist. Komm erstmal mit in die Küche, ich hab dir schon einen Kakao gemacht und Oma hat sogar deinen Lieblingsbienenstich vom Bäcker vorbeigebracht, den du so gerne magst.“
Unter diesen Aussichten lief Ilona schnell in die Küche und stürzte sich auf die Leckereien. Was für ein toller Tag der 24. Dezember doch war!
FROHE UND GESEGNETE WEIHNACHTEN!